Karl Klammer hat weniger genervt

Samstagfrüh, 7 Uhr - seit einiger Zeit am Computer - und schon wieder genervt: Der Datenabgleich mit Krankenkassen etc. erschwert mir zusehends das Arbeiten. Wenn meine Mitarbeiterinnen oder ich etwas eintragen, wie einen Blutdruck, einen Cholesterinwert oder einen Hautbefund, bekommen Patientinnen und Patienten immer häufiger eine automatisch generierte Nachricht mit Aufforderungen, ggf. Warnungen z.B. „Ihr Hausarzt hat einen Blutdruck von über 139/89 mmHg eingetragen. Wenden Sie sich an Ihren Hausarzt zur Optimierung der Therapie.“ 

 

In diesem Beispiel: Ich kenne die Patientin. Weiß auch um den sog. Praxishochdruck/Weißkitteleffekt. Von uns durchgeführte 24-Stunden-Blutdruckmessungen sowie eigene Messungen der Patientin zeigten wiederholt Werte im Zielbereich. Der hier gemessene Wert war erhöht bei Aufregung und schnellem Arbeiten ohne 5 Minuten Pause vor Messung. Das führt jetzt zu einer Warnung durch die Krankenkasse an die Patientin. Das ist sinnarm. Das ist nicht gut! Früher gab es die Info für die Krankenkasse nicht. Krankenkassen konnten sich so also weniger einmischen in meine ärztliche Versorgung. Sie haben ihre Arbeit gemacht, ich meine. Menschen mussten aktiv werden und das ist aufwendig und teuer. Jetzt geht so eine Nachricht ohne nötige Abwägung automatisch raus. Kostet kaum etwas, wird einfach geschickt an die Patientin, verunsichert diese ggf., lässt u.U. sogar das Arzt-Patienten-Verhältnis leiden und generiert zusätzliche Arbeit und kostet mich Zeit, Geld und Nerven. Platt gesagt: Genauso gut könnte man allen Pendlern in der Buslinie 630 bei jedem Verkehrsschild und jedem überholendem Auto eine Warnmeldung aufs Smartphone schicken, mit der Bitte ihren Busfahrer zu kontaktieren. 

 

Immer wieder wird in solchen Schreiben darauf hingewiesen, dass man aktiv werden soll, dass man mit dem Hausarzt Kontakt aufnehmen soll. Ich kann diese ubiquitären, gebetsmühlenartigen, unüberlegten Aufrufe den Hausarzt zu kontaktieren nicht mehr hören. Dies ist Behinderung meiner Arbeit! Ich habe genug mit hilfebedürftigen Menschen zu tun, ich brauch nicht noch mehr heiße Luft. Wiederholt muss ich beruhigende und erklärende Gespräche führen bei Nichtigkeiten, auch mal Tippfehlern oder kreativer Eingabe eines fehlenden Wertes, ohne den das System blockiert hätte. Ich muss noch mehr Zeit in Abwehrkämpfe stecken. Diese Zeit spare ich bei anderen Patienten ein. Dies alles wird zunehmen. Ich werde mich immer mehr drauf konzentrieren müssen, automatisierte Systeme so zu bespielen, dass es zu keiner Reaktion dieses Systems kommt. Damit rückt der Computer in den Fokus, der Patient verschwindet aus dem Fokus. 

 

Ich kann diesen Kampf gegen Algorithmen, Filter und fraglich gut gemeinte automatisierte Reaktionen nicht gewinnen. Und wenn ich einen Kampf gegen automatisierte Systeme nicht gewinnen kann, ziehe ich mich ein weiteres Stück zurück. Mit der Salamitaktik, mit der man zunehmend kontrolliert und gegängelt wird, mit genau der Salamitaktik ziehe ich mich zurück. Die Patientenversorgung und allgemeine Zufriedenheit verbessert dies alles nicht! Wir wissen was gesellschaftlich passieren kann, wenn Unzufriedenheit steigt. 

 

Den Krankenkassen werde ich Briefe schreiben müssen mit der dringenden Bitte, diesen Quatsch zu lassen. Gerne können Sie mich dabei unterstützen, denn der sog. Klient kann in der Masse vermutlich mehr ausrichten als ich.

 

In den nächsten Wochen werde ich mich erneut zur scheinbaren umfassenden Verbesserung durch zunehmende Digitalisierung äußern, u.a. zur meines Erachtens schlechten Umsetzung der elektronische Patientenakte (= ePA), erdacht zu einer Zeit, in der sich viele noch nicht mal die Existenz von Touch-Screens vorstellen konnten. Das man bei der Organspende aktiv ZUstimmen muss, da eine Widerspruchsregelung unethisch sei, aber bei den Patientendaten, Daten als Erdöl des 21. Jahrhunders, man WIDERsprechen muss, ist eine Sache. Der Zeitaufwand, der für mich entstehen wird, ist eine andere. Ich bin nicht prinzipiell gegen eine ePA, ich bin gegen diese ePA. Ich werde KEINE doppelte Buchführung machen und meine Zeit vor dem PC noch weiter ausbauen. Patientinnen und Patienten haben dann die Wahl sich zu entscheiden z.B. „ePA“ oder „Blauer Bogen“. Der sog. Blaue Bogen funktioniert gut. Die ePA muss noch beweisen, dass sie im Alltag funktioniert, soll heißen im Alltag und besonders im Notfall eine wirkliche Verbesserung zu unserem System darstellt. Die Entscheidung ist frei. Ich selbst widerspreche meiner elektronischen Patientenakte in den nächsten Tagen und schaue mir in ein bis zwei Jahren an, wie die politische Gesamtsituation aussieht und ob die ePA wirklich einen Gesamtvorteil gebracht hat in der Patientenversorgung (!) im Vergleich zu unserem bewährtem System; oder aber nur Teilerfolge präsentiert werden. Sie werden sich entscheiden müssen. Beides, also akribisches Aufarbeiten Ihres Gesundheitszustandes und der Daten durch mich und bündeln auf lesbaren (!) Umfang im sog. Blauen Bogen PLUS umfangreiches Füttern der ePA mit ihren zahlreichen PDFs durch mich wird es nicht geben, da zeitlich leider nicht machbar. Der Tag hat 24 Stunden, ich habe einer Familie, der ich verpflichtet bin und auch ich bin ein Homo sapiens. Sie werden eine Entweder-Oder-Entscheidung treffen müssen. Beides schaffe ich nicht. Entscheiden Sie. Eine Entscheidung ist keine endgültige. Aber erst einmal nicht mitmachen, beobachten und später nach Abwägung von Vor- und Nachteilen bewusst entscheiden ist manchmal die bessere Lösung. Munter bleiben!

 

PS: Sonntagabend: habe am Wochenende mit einem IT-affinen Patienten gesprochen. Wir beiden haben schon ein paar Mal gemeinsam mit den Augen gerollt bzgl. der Umsetzung an sich nicht ganz unsinniger Grundideen. Er hat drei (!) verschiedene automatische Schreiben erhalten aus wohl einer (!) Visite mit Hinweisen zu seinen chronischen Erkrankung und Aufforderung, sich mit mir in Verbindung zu setzen zur Optimierung der Therapie. Was glaubt man denn, was wir in der Visite machen. Tetris spielen?!  Man glaubt natürlich gar nichts, ein Algorithmus wird geschrieben und dann läuft das von ganz alleine und wird erst korrigiert, wenn genügend Menschen sich beschewren. Stellen Sie sich vor sie gehen zum Frisör und eine Woche später bekommen Sie ein Schreiben, dass bei der letzten Vorstellung beim Frisör Ihre Haare lang waren und Sie sich besser mit dem Frisör in Verbindung sezten sollten, um über eine Haarlängenoptimierung zu sprechen. Es ist unfassbar, was für ein Blödsinn verzapft wird und was uns von der Arbeit abhält. Und wieder: Munter bleiben! :)